Instituts- und Personengeschichte der Praktischen Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien

I. Gegenwärtiges Forschungsprofil

Praktische Theologie befasst sich mit der Analyse, Kritik und Gestaltung der religiösen Praxis des Christentums. Diese Praxis begegnet in verschiedenen Formen der Kommunikation des Evangeliums, die vom seelsorglichen Gespräch über diakonisches Handeln und pädagogische Interaktionen bis hin zu Gottesdienst und Predigt reichen, um nur einige ihrer Facetten zu benennen. Am Wiener Institut für Praktische Theologie und Religionspsychologie ist ein kohärentes Verständnis der kommunikativen Bedingungen dieser Praxis der erklärte Ausgangspunkt der wissenschaftlichen Beschäftigung mit den Herausforderungen und Möglichkeiten, vor denen Einzelne, Gemeinden und die Institution Kirche bei der Kommunikation des Evangeliums stehen.

Dieser Ansatz hat unmittelbare theologische und methodische Konsequenzen: Zum einen gilt es, religiöse Praxis selbst als Kommunikations- und Beziehungsgeschehen theologisch in den Blick zu bekommen, z. B. in Bezug auf ihren personalen Modus, ihren Handlungs-Charakter, ihre Verständlichkeit und ihren Situationsbezug. Zum anderen ist die Praktische Theologie aufgrund ihrer notwendigen Fokussierung auf Religion als einen erfahrungs- und verstehensbasierten Kommunikationsprozess dem interdisziplinären Dialog verpflichtet: Weil immer Personen als konkrete Individuen bzw. Subjekte im Spiel sind (was sich z. B. in der Persönlichkeit eines Predigers manifestiert), weil mit je wechselnden Situationen zu rechnen ist, auf die die Kommunikation des Evangeliums bezogen ist (z. B. bei der Inanspruchnahme von Seelsorge) und weil man auf wechselseitiges Verstehen setzen muss, wozu eine verständliche Sprache, überhaupt dechiffrierbare Zeichen gehören, sind insbesondere Psychologie, Soziologie und Semiotik unverzichtbare Gesprächspartner der Praktischen Theologie.

Unter welchen Rahmenbedingungen auch immer sich die Kommunikation des Evangeliums im Einzelnen vollzieht – z. B. in Form eines Gesprächs, im Erarbeiten, Vortragen und Rezipieren einer Predigt, im Mitvollzug des Abendmahls – , wir haben es stets und gleichzeitig mit Mitteilungs-, Partizipations-, Integrations- und Interaktionsprozessen von Menschen zu tun. Daher gehören schließlich auch – auf der Höhe des interdisziplinären Diskurses um dem Menschen zu stellende – anthropologische Fragen zum täglichen Repertoire Praktischer Theologie. Der Prozess der Kommunikation des Evangeliums findet ja nicht um der Religion willen, sondern um der Menschen willen statt: Er unterstützt sie bei der Aneignung von Freiheit, er motiviert dazu, Liebe zu gewähren und zu empfangen, kurz: er trägt dazu bei, dass Menschen als Menschen zum Vorschein kommen. Das hat Konsequenzen für ihre Identität, für die Rolle ihres Gewissens bei der Erfahrung von Autonomie, für ihren Umgang mit Wünschen, für den Gebrauch des Willens, das Treffen von Entscheidungen, die Fähigkeit zur Hingabe im Handeln, zur Wahrnehmung von Verantwortung u. a. m.

Dieses Verständnis von Praktischer Theologie schlägt sich am Institut v. a. in folgenden Forschungsschwerpunkten nieder:

  1. Analyse, Kritik und Gestaltung religiöser Kommunikationsprozesse

    Weil es bei der Feier eines Gottesdienstes, beim Predigen und Hören, im seelsorglichen Gespräch oder christlichen Bildungsprogrammen usw. um Kommunikationsprozesse geht, muss sich die entsprechende Praxis an den Prinzipien von Kommunikation orientieren. Auch die Kommunikation des Glaubens ist davon nicht suspendiert.

  2. Anthropologisch-religionspsychologische Reflexion der Glaubenskultur des Christentums
    Die Gestaltung christlich-religiöser Praxis ist nicht selten an einer Anthropologie orientiert, die auf das Konzept der Rechtfertigung des Sünders reduziert ist. In der alle Human- und Geisteswissenschaften vereinenden Frage nach Menschen genügt es aber nicht, ein vermeintlich „biblisches Menschenbild“ gegen „humanwissenschaftliche“ Einsichten seit der Aufklärung zu verteidigen. Es ist unausweichlich, den Menschen als Subjekt seines Lebens in den Blick zu bekommen.

  3. Lebenskunst und Lebensgefühl im Blickpunkt religiöser Praxis

    Glauben hat u. a. auch damit zu tun, sich auf eine ganz bestimmte Art und Weise auf sein Leben zu verstehen und mit einem entsprechenden Lebensgefühl zu leben. Angesichts spezifischer gesellschaftlicher Entwicklungen gewinnt die Herausforderung, unter vorgegebenen Bedingungen ein nicht vorgegebenes leben zu führen, neu an Brisanz. Es gilt, Ressourcen der Lebenskunst auch im Kontext der religiösen Praxis des Christentums zu erschließen.

Als eigenständige Disziplin bzw. akademisches Fachgebiet Theologischer Fakultäten ist die Praktische Theologie eine junge Wissenschaft. Sie hat sich erst im Laufe des 19. Jahrhunderts etabliert. Natürlich gab es schon vorher verschriftete Konzepte zur Aufgabe und Struktur eines Gottesdienstes, zur Funktion und Methode der Predigt, zu den Zielen und Herausforderungen der Seelsorge oder zu den Prinzipien und Perspektiven der Gemeinde- und Kirchenleitung. Allerdings hatten solche Handreichungen häufig einen ausgesprochen pragmatisch–kasuellen Charakter und Merkmale religiöser Erbauungsliteratur.

Da man aber weder mit praktischen Erfahrungen allein noch aus bloßer frommer Überzeugung die religiöse Praxis des Christentums analysieren, beurteilen, kritisch begleiten oder gestalten kann, sind am Wiener Lehrstuhl für Praktische Theologie markante Versuche unternommen worden, um die „Kommunikation des Evangeliums“ in Bewegung zu halten – auch wenn man dabei eine andere Terminologie benutzt und durchaus divergierende Positionen vertreten hat. Die damit verbundenen Bemühungen haben folgende Spuren hinterlassen:

II. Personen und Biogramme

1. Paul Laitner: Erster evangelischer Pastoraltheologe in Wien

Paul Laitner (Lithografie von Franz Eybl, Albertina)

Paul Laitner (* 8.8.1789 in Preßburg; † 14.10.1855 Neuwaldegg) war in Schladming als lutherischer Pfarrer tätig, als er auf den Lehrstuhl für Moral- und Pastoraltheologie an die protestantisch-theologische Lehranstalt berufen wurde. Er lehrte dreißig Jahre lang (1824–1855) in Wien in einem Forschungsfeld, für das sich erst im Laufe der Zeit die Bezeichnung "Praktische Theologie" etablierte.

Laitner absolvierte sein Theologiestudium in Jena und war wie die gesamte erste Professorengeneration, die im Vormärz in Wien lehrte von der Jenaer Schule nachhaltig geprägt. Er war Konsistorialrat (1849) und nach der Umwandlung der protestantisch-theologischen Lehranstalt in eine Fakultät (1850) auch ihr erster Dekan (1850/1851).

Werke in Auswahl: Nonnullis, quae ad instituti finem propositum promovendum plurimum valere videntur, pia desideria (1830)

2. Karl Kuzmány: Sprachkundiger Panslawist und Kirchenrechtler

Karl Kuzmány (Lithografie von Josef Kriehuber)

Karl Kuzmány (* 16.11.1806 in Briesen; † 14.8.1866 in Bad Stuben) war von 1849 bis 1863 Professor für Praktische Theologie in Wien. Er fungierte 1861/1862 als Dekan der Evangelisch-Theologischen Fakultät und auch ihr erster Ehrendoktor (1862). Kuzmány war ein enger Vertrauter der Regierung, ein kaiserloyaler Antirevolutionär und überzeugter Panslawist. Als prominente Stimme eines neuen, slowakischen Selbstbewusstseins machte er sich große Verdienste im Bereich der slowakischen Sprache, Literatur und Kultur. Er begründete eine slawische Tradition am Wiener Lehrstuhl. Erst unter Kuzmány war der Lehrstuhl auch namentlich explizit der Praktischen Theologie gewidmet – und nicht mehr der Moral- und Pastoraltheologie.

Diese Neuausrichtung steht im Zusammenhang einer universitären Reform, die es auch erforderlich machte, Übungen in den Landessprachen der Habsburgermonarchie durchzuführen und einzelne Vorlesungen in Slowakisch und Magyarisch anzubieten. Kuzmány legte eine Vielzahl an kirchenrechtlichen Publikationen vor. Er konzipierte die Praktische Theologie insgesamt als ein primär kirchenrechtlich angelegtes Forschungsunternehmen. Das Ungarische Protestantenpatent (1859) geht auf Vorarbeiten Kuzmánys zurück. Er war ab 1860 zugleich Lehrstuhlinhaber in Wien und Superindendent in Banská Bystrica. Kuzmany hatte selbst vorrangig in Jena Theologie studiert, aber auch in Berlin, Leipzig und Halle. Er blieb bis zuletzt von der Jenaer Theologie beeinflusst und adaptierte sie für den slowakischen Kontext.

Werke in Auswahl: Lehrbuch des allgemeinen und österreichischen evangelisch-protestantischen Kirchenrechtes (1855) • Urkundenbuch zum österreichisch-evangelischen Kirchenrecht (1856) • Handbuch des allgemeinen und österreichischen evangelischprotestantischen Eherechtes (1860)

3. Johann Michael Szeberinyi: Streitbarer Neulutheraner

Johann Michael Szeberinyi (* 16.2.1825 in Schemnitz; † 21.1.1915 in Wien) war in Wien als Supplent für praktisch-theologische Lehrveranstaltungen tätig, bevor er 1863 gegen den Widerstand des Kollegiums zum Lehrstuhlinhaber für Praktische Theologie und Kirchenrecht bestellt wurde. Er hatte diesen Lehrstuhl von 1863 bis 1895 inne. Seine loyale Haltung zu den Herrschenden während der Revolution 1848, sein Eintreten für das Protestantenpatent, seine profunde Kenntnis nicht-deutscher Sprachen (Magyarisch, Slowakisch, Tschechisch), seine Predigterfahrung und seine Rechtskenntnis dürften bei seiner Bestellung eine Rolle gespielt haben.

Mit der Berufung Szeberinyis auf den Lehrstuhl für Praktische Theologie war die Dominanz liberaler Theologe in Wien beendet. Szeberinyis Berufung steht für den Sieg des Neuluthertums und für ein Erstarken des konfessionellen Profils. Szeberinyi war aktiv gegen den Antisemitismus seiner Zeit eingetreten. Das praktisch-theologische Studium hatte während seiner Tätigkeit am Lehrstuhl folgende Schwerpunkte: Kirchenrecht, Homiletik, Liturgik, Katechetik, Pastoraltheologie. Über Szeberinyi wird berichtet, dass er in Glaubensangelegenheiten mit Entschiedenheit gegen übersteigerten Glaubenseifer eingetreten war. Sein Theologiestudium hatte Szeberinyi in Jena und Berlin absolviert. Er war vor seiner akademischen Tätigkeit als Hauslehrer, Stadtpfarrer und Superintendent tätig gewesen, ehe er zum Konsistorialrat (1859) gewählt worden und sodann nach Wien übersiedelt war, wo er zunächst als Garnisonsprediger wirkte (ab 1860).

Werke in Auswahl: Eszmetöredékek a magyarhoni protestantismus jelen stadiumán (1857) • Der Pseudo-Protestantismus auf kirchenrechtlichem Gebiete (1865) • Evang. Vorträge über Glauben und Geschichte des Christentums (1886) • Evangelisch-christliche Religionslehre (1886)

4. Gustav Adolf Skalský: Kirchenrechtler und Prager Gründungsdekan

Gustav Adolf Skalský

Gustav Adolf Skalský (* 3.3.1857 in Opatowitz; † 28.1.1926) war ein im Pfarramt erfahrener, tschechischer Lutheraner, der den Lehrstuhl für Praktische Theologie von 1895 bis 1919 inne hatte, ehe er 1919 nach Prag wechselte. In Prag lehrte Skalský sodann als Professor für Kirchengeschichte und Praktische Theologie. Er fungierte als Gründungsdekan der Prager Hus-Fakultät. In seiner Zeit am Wiener Lehrstuhl kam es zu einer Ausweitung des praktisch-theologischen Lehrveranstaltungsangebotes, das fortan auch eine Einführung in die Praktische Theologie sowie eine Veranstaltung zur speziellen Seelsorge vorsah. Wenngleich der tief im Luthertum verwurzelte Skalský (darin seinem Nachfolger nicht unähnlich) primär kirchenhistorisch forschte, konnte er sich als Praktischer Theologe bewähren. Sein Lehrgebiet umfasste damals auch das gesamte Kirchenrecht. Skalský publizierte zum Eherecht, zum Kirchen- und Kirchenverfassungsrecht, zu den Hussiten sowie zur Fakultätsgeschichte.

Ab 1909 vertrat er als außerordentlicher Oberkirchenrat die Interessen der tschechischen Lutheraner in der Wiener Zentralbehörde. Skalský hatte von 1876–1879 Theologie in Wien studiert und war von seinem Studium in Erlangen (1879–1880) nachhaltig geprägt. An der Erlanger Fakultät dominierte damals das orthodoxe Luthertum. Vor allem Carl Adolf Gerhard von Zezschwitz hatte als Universitätsprediger und Professor Eindruck auf Skalský gemacht. Skalskýs Promotionsschrift über die evangelische Kirchenverfassung (1898) gilt bis heute als Standardwerk.

Werke in Auswahl: Zur Geschichte der Evangelischen Kirchenverfassung in Österreich (bis zum Toleranzpatent) (1898) • Husitství za hranicemi Čech (1901) • Cesko-slovansky ïivel na evanjelickém bohosloveckém uíeni ve Vidní (1905) • Zur Reform des österreichischen Eherechtes (1906) • Die Verwaltungsgrundsätze der evangelischen Kirche in Österreich im Lichte ihres Verhältnisses zum Staate (1906) • Der Exulantenprediger Johann Liberda (1910) • Hus. Kalendář pro evanjelicky (Evang. Hauskalender) (1891–1917)

5. Karl Völker: Vielseitiger Historiker und engagierter Kirchenmann

Karl Völker (Archiv der Universität Wien)

Karl Völker (* 1.12.1886 in Lemberg; † 27.9.1937 in Wien) war zweifellos ein Mann der Kirche (Gemeindevertreter, Synodenmitglied, Prediger, Leiter des Schulvereins). Bemerkenswerterweise trat Völker durch Publikationen in allen theologischen Disziplinen in Erscheinung. Völker war nur kurzzeitig Professor für Praktische Theologie, nämlich von 1920 bis 1922. Zuallererst war Völker ein Kirchenhistoriker: Er habilitierte 1919 in Kirchengeschichte und wurde – nach seinem praktisch-theologischen Zwischenspiel – auch auf den Wiener kirchengeschichtlichen Lehrstuhl berufen (1922). Man traute Völker angesichts seines kirchlichen Engagements, seiner akademischen Verdienste und seiner regen Publikationstätigkeit zu, auch in der praktisch-theologischen Disziplin zu reüssieren. Völkers praktisch-theologische Publikationen widmen sich dem Religionsunterricht, der enzyklopädischen Stellung der Praktischen Theologie und dem Verständnis christlicher Mahlfeiern. Bekannt wurde Völker aber für andere Werke, z. B. für seine Kirchengeschichte Polens (1930). Sein eigenes Studium der Geschichte und Theologie hatte Völker nach Wien, Leipzig und Berlin geführt. Adolf von Harnack kann als sein bedeutendster Lehrer gelten.

Werke in Auswahl: Biblisches Lesebuch für evangelische Schulen (151911) • Die Stellung der praktischen Theologie in der theologischen Wissenschaft (1921) • Mysterium und Agape. Die gemeinsamen Mahlzeiten in der alten Kirche (1927) • Aus der Staatenpraxis. Die Gestaltung der Verfassung der evangelischen Kirche in Österreich (1931)

6. Gustav Entz: Eifernder Seelsorger und NS-Erfüllungsgehilfe

Gustav Entz (Archiv der Universität Wien)

Gustav Entz (* 14.9.1884 in Wien; † 15.10.1957 ebenda) war Studieninspektor im Evangelischen Theologenheim (1909–1912), Pfarrer in Wien-Hietzing und langjähriger Lehrstuhlinhaber für Praktische Theologie (1922–1955) in Wien. Dass er von 1938 bis 1949 durchgängig Dekan der Fakultät bleiben konnte, war nur möglich, weil er sowohl in der NS-Zeit als auch in der Phase der Entnazifizierung und der Rehabilitierung von der Kollegenschaft getragen wurde und politisch wechselnde Situationen zu nutzen wusste. Entz forschte u.a. zur Inneren Mission und zur Parapsychologie (Spiritismus, Okkultismus, etc.). Er blieb vielen nicht wegen seiner Forschung, sondern wegen seiner seelsorglichen Bemühungen in Erinnerung. Während der Kriegsjahre war Entz für viele Studierende ein wichtiger Ansprechpartner im theologischen Betrieb.

Gustav Entz war deutschnational gesinnt. Er agierte zunächst als vehementer Gegner des Austrofaschismus und inszenierte sich später als glühender Verfechter nationalsozialistischer Ideologie. Er erwies sich für die NS-Funktionäre als entgegenkommender Amtsträger. Nach dem „Anschluss“ trat Entz umgehend als förderndes Mitglied der SS bei und beantragte die Aufnahme in die NSDAP. Den österreichischen Zweig der Deutschen Christen (DC) unterstützte er und wurde zeitweise sogar für deren geheimes Oberhaupt gehalten. Entz war außerdem Mitarbeiter am Eisenacher Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben. Über seine Schrift 400 Jahre Protestantismus in Österreich (1937) berichte Entz im Jahre 1940 mit Stolz, dass sie in der illegalen SA und SS tausendfach gelesen worden sei.

Seine im Laufe der Zeit lauter werdenden Klagen über die kirchenfeindlichen Maßnahmen einzelner NS-Parteifunktionäre machen Entz gleichwohl nicht zu dem Widerstandskämpfer, als den er sich nach dem Krieg inszenierte. Der Beginn der Zeit des Nationalsozialismus in Österreich sowie die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem Bemühen der Wiedererrichtung der Demokratie markierten neuralgische Punkte in seinem Leben:

Entz wurde unmittelbar nach dem „Anschluss“ am 16.3.1938 unter der Regierung Seyß-Inquart als jüngstes Mitglied des Fakultätsgremiums zum Dekan ernannt und löste seinen erfahrenen Kollegen Karl Beth in dieser Funktion ab. Eine seiner ersten Amtshandlungen war es, dem Vorgänger mitzuteilen, dass er seine Professur niederlegen müsse und keine Vorlesungen mehr halten dürfe. Karl Beth und seine jüdische Frau Marianne Beth, die erste an der Universität Wien promovierte Juristin (1921) sowie die erste Rechtsanwältin Österreichs (ab 1928), emigrierten in die USA, wo Beth bis 1945 u.a. Religionspsychologie in Chicago lehrte, sie aber ihren bisherigen Beruf nicht mehr ausüben konnte.

Nach Beschluss des Verbotsgesetztes vom 8.5.1945 musste Entz als amtierender Dekan am 25.6.1945 im Zuge des Entnazifizierungsbemühens ein Personenstandsblatt ausfüllen. Darin verheimlichte er sowohl seine Anwärterschaft als NSDAP-Mitglied als auch der Fördermitgliedschaft der SS sowie seine Mitgliedschaften im Reichsluftschutzbund und bei der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV). In den Vorträgen von Entz finden sich noch in den 1950er Jahren antisemitische Töne. Dass Entz 1954 das Große Silberne Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich erhielt und ihn die Stadt Wien bis heute mit einem Ehrengrab am Wiener Zentralfriedhof würdigt (Tor 4, Gruppe 2, Nr. 463–464), ist angesichts seines Lebensweges erstaunlich. Die kirchliche Gustav-Entz-Gedächtnisstiftung wurde in den 1990er Jahren in Dr.-Wilhelm-Dantine-Gedächtnisstiftung umbenannt (ABl. Nr. 2/1995).

Entz hatte hauptsächlich in Wien studiert, aber auch in Berlin und Marburg/Lahn, ehe er 1911 zum Doktor der Philosophie und 1923 in Königsberg zum Doktor der Theologie promoviert wurde. Adolf von Harnack und Wilhelm Herrmann waren seine wichtigsten Lehrer.

Werke in Auswahl: Pessimismus und Weltflucht bei Platon (1911) • Johannes Chrysostomos als religiöser Denker und Seelsorger (1916) • Die Innere Mission als Lebensquelle der Evangelischen Kirche (1929) • Die Stellung des Urchristentums zu den Fragen des Okkultismus und Spiritismus (1930) • 400 Jahre Protestantismus in Österreich (1937) • Das Problem des biblischen Wunders im Lichte der mediumistischen Forschung (1932) • Erinnerungen aus 50 Jahren kirchlicher und theologischer Arbeit (1950)

7. Fritz Zerbst: Kirchen- und universitätspolitisch aktiver Amtstheoretiker

Fritz Zerbst (Archiv der Universität Wien)

Fritz Wilhelm Erich Zerbst (* 14.1.1909 in Schubin; † 2.12.1994 in Baden) war erster Superintendent der Diözese A.B. Kärnten-Osttirol und von 1955 bis 1976 Professor für Praktische Theologie in Wien. Zerbst wurde viermal zum Dekan der Fakultät gewählt und gehörte acht Jahre lang dem Universitätssenat an. 1969/1970 war er Rektor der Universität Wien. Er war Vorsitzender der österreichischen Rektorenkonferenz und auch Vizepräsident der osteuropäischen Rektorenkonferenz.

Zerbst hatte den Lehrstuhl für Praktische Theologie 20 Jahre lang inne. Seine Lehre deckte die Disziplinen Homiletik, Liturgik, Katechetik, Seelsorge, Religionsgeschichte, Diakoniewissenschaft, Ökumenik und Missionswissenschaft ab. Zu seiner Zeit wurde das Kirchenrecht als eine Reflexionsperspektive der Kybernetik verstanden und fungierte fortan nicht mehr als eigene Subdisziplin oder gar – wie unter vorhergehenden Lehrstuhlinhabern – als entscheidendes praktisch-theologisches Aufgabenfeld. Der zuvor als reformierter Landessuperintendent und Pfarrer tätige Johann Karl Egli (*1891; † 1975) wurde Zerbst als Lehrbeauftragter für Kirchenrecht zur Seite gestellt.

Mit seiner international rezipierten Promotionsschrift Amt und Frau in der Kirche (1950), die Zerbst 1940 abschloss und Ende 1945 verteidigte, lieferte er dem konservativen Luthertum in der Frauenfrage eine gewichtige Argumentationsstütze: Er argumentierte biblisch für die Nichtzulässigkeit der Frauenordination. Als Gegner des Nationalsozialismus trat Zerbst für harte Maßnahmen der Kirchenzucht ein, die es erschweren sollten, dass während der NS-Diktatur Ausgetretene rehabilitiert würden. Von 1956 bis 1972 war Zerbst Präsident des Diakonischen Werkes und von 1958 bis 1972 Vizepräsident des Internationalen Verbandes für Innere Mission und Diakonie. Für seine Verdienste erhielt Zerbst das Österreichische Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst I. Klasse, die Goldene Ehrenmedaille der Bundeshauptstadt Wien sowie das Große Ehrenzeichen des Landes Kärnten.

Werke in Auswahl: Gem. mit Helmut Gollwitzer, Margarete Hoffer und Herbert Krimm: Evangelisches Christentum. Eine kurze Hilfe für kirchliche Unterweisung (1935) • Friede und Freude / Vom geistlichen Amt (1948) • Das Amt der Frau in der Kirche (1950) • Konfirmandenbüchlein (1951) • The Office of Woman in the Church (1955) • Gemeinsam mit Gottfried Fitzer: Gottes Wort über Ehe und Familie. Öffentliche Vorträge auf der Generalsynode • Steinzeit Heute. Gelbe Buschmänner im Süden Afrikas und die europäische Vorzeit (1983)

8. Walter Franz Uhsadel

Walter Franz Uhsadel (* 28.6.1900 in Danzig; † 9.6.1985 in Hamburg) vertrat den Wiener Lehrstuhl von 1971 bis 1972. Uhsadel war Studienleiter am Pädagogischen Institut in Hamburg (ab 1950), Lehrbeauftragter für Praktische Theologie/Katechetik, erst an der Kirchlichen Hochschule in Hamburg, später an der theologischen Fakultät (ab 1951). Er lehrte sodann als Professor für Praktische Theologie in Tübingen (ab 1956) und interessierte sich u. a. für psychologische und psychotherapeutische Reflexionsperspektiven und ihre Bedeutung für praktisch-theologische Handlungsfelder.

9. Hans-Christoph Schmidt-Lauber: Einflussreicher Liturgiewissenschaftler

Hans-Christoph Schmidt-Lauber (privat)

Hans-Christoph Schmidt-Lauber (* 4.2.1928 in Lübeck; † 27. 4. 2009 in Wien) war von 1977 bis 1996 Professor für Praktische Theologie. Er trat – auch auf internationalem Parkett (u. a. durch einzelne Übersetzungen seiner Texte) – besonders durch Publikationen im Bereich der Liturgik und der Gottesdiensttheorie in Erscheinung. Das von ihm maßgeblich miterarbeitete, von Reformideen inspirierte Handbuch der Liturgik (32003) ist ein Klassiker der Ausbildung von Studierenden und Vikar*innen geworden.

Bereits als Pastor in Lübeck-Siems war er Mitglied der Michaelsbruderschaft, setzte sich für eine zeitgenössische christliche Spiritualität ein und machte in zahlreichen Aufsätzen Vorschläge für eine nachhaltige Reform der Gottesdienstkultur. Seine Heidelberger Dissertation (Die Eucharistie als Entfaltung der verba testamenti, 1957) führte Schmidt-Lauber zu seinem Lebensthema: Gottesdienstkultur im ökumenischen Horizont. Die Verbundenheit der Konfessionen und die spirituelle Tiefe einer lebendigen, auch diakonisch wirksamen Glaubens- und Gottesdienstkultur waren ihm Herzensanliegen.

Die im Kontext der Abendmahls-Debatte der 70er und 80er Jahre erst angemahnten, dann entwickelten und praktisch umgesetzten Reformen gehen in starkem Maße auf Impulse Hans-Christoph Schmidt-Laubers zurück.

Schmidt-Lauber war zweimal Dekan der Fakultät (1984–1986; 1992–1994). Er war Präsident der Societas Liturgica (1981–1983) und langjähriges Mitglied der Liturgischen Konferenz Deutschlands. Er prägte mit seiner Expertise die Debatten um das Evangelische Gottesdienstbuch, das die alten Agenden der VELKD und der EKU im Jahre 1999 ablöste und auch von der Evangelischen Kirche A. B. in Österreich übernommen wurde.

Das wichtigste Werk Schmidt-Laubers ist sein Handbuch der Liturgik, dessen Zustandekommen von Kollegen anerkennend als "ein kleines Wunder" gewürdigt wurde. Seine Tochter, Brigitta Schmidt-Lauber, ist seit 2009 Universitätsprofessorin für Ethnologie an der Universität Wien. Sein eigenes Theologiestudium hatte Schmidt-Lauber übrigens nach Marburg, Tübingen, Heidelberg und Birmingham geführt.

Werke in Auswahl: Die Eucharistie als Entfaltung der Verba Testamenti (1957) • Der Kindergottesdienst im evangelischen Deutschland (1979) • Theologia scientia eminens practica (1979) • Gottesdienst und Diakonie (1982) • Auf dem Wege zu einer gemeinsamen Agende der Evangelischen Kirchen deutscher Sprache (1987) • Die Zukunft des Gottesdienstes (1990) • Konvergenzen katholischer und evangelischer Liturgiereform (1990) • Gem. mit Manfred Seitz: Der Gottesdienst. Grundlagen und Predigthilfen zu den liturgischen Stücken (1992) • Gem. mit Karl-Heinrich Bieritz: Handbuch der Liturgik (1995, 32003)

10. Hans-Hinrich Jenssen

Hans-Hinrich Jenssen (* 11.11.1927 in Greifswald; † 10.2.2003 in Berlin) vertrat den Lehrstuhl für Praktische Theologie in Wien im Jahre 1988. Jenssen promovierte 1955 in Berlin und hatte von 1960 bis 1993 den Berliner Lehrstuhl für Praktische Theologie inne. Jenssen gilt als Vertreter einer liberalen Theologie und war von der Idee eines freien Christentums überzeugt, das sich von kirchlichen Dogmen und verbindlichen Standardprogrammen christlicher Lebensführung emanzipiert.

11. Susanne Heine: Religionspsychologische Profilierung des Lehrstuhls für Praktische Theologie

Susanne Heine (privat)

Susanne Heine (* 17.1.1942 in Prag) leitete von 1984 bis 1990 zunächst das an der Wiener Fakultät neu errichtete Institut für Religionspädagogik. 1990 wechselte sie auf die Professur für Praktische Theologie und Religionspsychologie nach Zürich. Von 1996 bis zu ihrer Emeritierung im Jahr 2010 hatte sie den gleichnamigen Lehrstuhl an der Evangelisch-Theologischen Fakultät in Wien inne.

Auf ihre Initiative hin wurde das Profil der Praktischen Theologie in Wien religionspsychologisch geprägt. Dass das Institut bis heute den Namen Praktische Theologie und Religionspsychologie trägt, geht auf Susanne Heine zurück. Sie hat sich um die interdisziplinäre Erschließung der Religionspsychologie verdient gemacht und war eine der treibenden Kräfte beim am Aufbau des Sokrates-Netzwerkes Religionspsychologie. Ihre Forschungsfelder reichen von paulinischer Hermeneutik und feministischer Frauen- und Geschlechterforschung über religions- und pastoralpsychologische Frage- und Problemstellungen bis hin zum christlich-muslimischen Dialog.

Heine war Zweite Vorsitzende der Europäischen Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie (1996–2002), Mitglied im Vorstand der International Association for the Psychology of Religion (1998–2009), Mitglied des Akademischen Senates der Universität Wien (1997–2006), stellvertretende Vorsitzende der Curricularkommission des Senates (2005–2009) und Mitglied des Kuratoriums des Europäischen Forums Alpbach (2000–2012). Sie wirkte in Schulungen des Bundesministeriums für europäische und internationale Angelegenheiten mit und arbeitet bis heute mit der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich zusammen. Susanne Heine hat seit 2014 gemeinsam mit Tarafa Baghajati den Vorsitz der 2006 gegründeten Plattform Christen und Muslime inne.

Ihr Werk Frauen der frühen Christenheit (1986) wurde mehrfach übersetzt (Englisch, Niederländisch, Koreanisch). Mit ihrem Buch Grundlagen der Religionspsychologie (2005) setzte Heine einen neuen Standard. 2007 erhielt sie für ihre beharrlichen Bemühungen um interreligiöse und ökumenische Verständigung den Wilhelm Hartel-Preis der Österreichischen Akademie der Wissenschaften sowie im Jahr 2011 auch das Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst (I. Klasse).

Neben Theologie hatte Susanne Heine auch Philosophie studiert, im Neuen Testament promoviert, in Religionspädagogik habilitiert und sich erst als Dozentin der Praktischen Theologie verschrieben.

Werke in Auswahl: Leibhafter Glaube (1976) • Biblische Fachdidaktik – Neues Testament (1976) • Frauen der frühen Christenheit (1986, 31990) • Wiederbelebung der Göttinnen (1987, 21989) • Frauenbilder – Menschenrechte (2000) • Islam – Zwischen Selbstbild und Klischee (1995) • Grundlagen der Religionspsychologie (2005) • em. mit Peter Pawlowsky: Die christliche Matrix (2008) • Erdenschwere – Gottessuche (2010) • gem. mit Rüdiger Lohlker und Richard Potz: Muslime in Österreich (2012) • gem. mit Ömer Özsoy, Christoph Schwöbel und Abdullah Takim: Christen und Muslime im Gespräch (2014)

12. Wilfried Engemann: Praktischer Theologe mit semiotischem und anthropologischem Fokus

Wilfried Engemann (privat)

Wilfried Engemann (* 4.1.1959 in Dresden) lehrt seit 1990 Praktische Theologie. Er war Privatdozent an der Theologischen Fakultät der Ernst-Moritz-Arndt Universität zu Greifswald, während er zugleich seinen Dienst auf der 1. Pfarrstelle an der Greifswalder Marienkirche versah. 1994 wurde er als Ordinarius für Praktische Theologie auf den entsprechenden Lehrstuhl an die Westfälischen Wilhelms-Universität zu Münster berufen, bevor er im September 2011 an das Institut für Praktische Theologie und Religionspsychologie in Wien wechselte.

Seine Publikationen zur Predigt- und Gottesdienstkultur, zur Theorie und Praxis der Seelsorge, zum Zusammenhang von Christentum und Lebenskunst sind in starkem Maße von kommunikations- und religionspsychologischen, semiotischen und philosophischen Fragestellungen bestimmt. Die damit verbundenen Auseinandersetzungen zogen Diskurse zum anthropologischen Verständnis religiöser Praxis, zum Stellenwert der Willensarbeit in der Seelsorge und zur Funktion der Zeichen in der religiösen und kirchlichen Kommunikation nach sich. Im Zuge internationaler Fortbildungsprojekte sind Lehrbücher u. a. für die isländische und dänische Pfarrerschaft in den entsprechenden Sprachen entstanden. Zuletzt wurde die 3. Auflage der Einführung in die Homiletik ins Amerikanische übersetzt.

Die umfassend kommentierte Edition der (teils unveröffentlichten) praktisch-theologischen Schriften und Vorträge Otto Haendlers (OHPTh) stellt den Versuch dar, psychologisches Grundlagenwissen für das Verständnis einer am Menschen orientierten Theologie zu erschließen und in diesem Zusammenhang eine historische Spurensicherung des dazu vorliegenden Diskurses vorzunehmen.

Engemann hat im Laufe seiner Dienstzeit unter anderem folgende Funktionen übernommen: Er war von 1994–2011 Mitglied der Synode der Evangelischen Kirche von Westfalen, 2002–2004 Dekan der Ev.-Theol. Fakultät der Universität Münster, 2006–2008 Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Semiotik, 2006-2011 Mitglied der Ethik-Kommission der Ärztekammer NRW sowie der Medizinischen Fakultät der Universität Münster. Er ist heute u. a. Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Semiotik, der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie, der Societas Homiletica und der Hans-Fallada-Gesellschaft. Für die Ämterperiode vom Wintersemester 2020 bis zum Ende des Sommersemesters 2022 ist er zum Dekan der Evangelisch-Theologischen Fakultät bestellt worden.

Sein Studium (1977–1983) hat Engemann am Theologischen Seminar Leipzig, einer der Kirchlichen Hochschulen in der DDR absolviert. Dort begann er seine akademische Laufbahn mit einer Assistentur mit der Fächerkombination Altes Testament/Praktische Theologie.

Werke in Auswahl: Persönlichkeitsstruktur und Predigt (1989) • Gib mir ein Zeichen (1992) • Semiotische Homiletik (1993) • Theologie der Predigt (2001) • Personen, Zeichen und das Evangelium (2003) • Einführung in die Homiletik (2002, 22011, 32020) • Aneignung der Freiheit (2007)!Frihed og kristen livskunst (dän., 2011) • Á mælikvarða mannsins (isl., 2012) • Handbuch der Seelsorge (2007, 32016) • Otto Haendler. Schriften und Vorträge zur Praktischen Theologie, Bd. 1: Praktische Theologie (2015), Bd. 2: Homiletik (2017), Bd. 3: Seelsorge (2019), Bd. 5: Predigten und Kasualansprachen (2020) • Homiletics. Principles and Patterns of Reasoning (amerik., 2019)

III. Profile – Programme – Impulse

1. Vom Kirchenrecht und der Religionspsychologie

Zweifellos war das Kirchenrecht lange Zeit in Wien von integraler Bedeutung für die praktisch-theologische Forschung. Karl Kuzmány war eine Koryphäe auf diesem Gebiet. Auch Gustav Adolf Skalský setzte Standards im evangelischen Kirchenverfassungsrecht. In der Lehre spielte das Kirchenrecht lange Zeit eine enorme Rolle: Ein Großteil der Lehrveranstaltungen war bis in die Zeit des Ersten Weltkriegs kirchenrechtlich akzentuiert. Im Zuge der notwendig gewordenen Professionalisierung in den vielfältigen Handlungsfeldern, wo sich christlich-religiöse Praxis zu bewähren hat, und der damit einhergehenden Ausdifferenzierung und Verfestigung praktisch-theologischer Teildisziplinen (Poimenik, Liturgik, Homiletik, Kasualtheorie, etc.) wurde das Kirchenrecht am Standort Wien von einer unbestrittenen Kardinaldisziplin allmählich zu einer Reflexionsperspektive neben anderen. Bis heute spielt das Kirchenrecht am Standort Wien aber eine wichtige Rolle und ist im theologischen Curriculum fest verankert. Neben die kirchen- und religionsrechtliche Perspektive sind jedoch andere gleichberechtigte Perspektiven getreten, allen voran die religionspsychologische und die anthropologische. Als unter Fritz Wilhelm Erich Zerbst das Kirchenrecht erstmals an einen Lehrbeauftragten übertragen und nicht mehr vom Lehrstuhlinhaber selbst bedient wurde, war der erste Schritt in diese Richtung getan und eine unaufhaltsame Entwicklung angestoßen. Das Kirchenrecht und mit ihm die historische Anlage der Praktischen Theologie verloren seither zunehmend an Bedeutung.

Die Religionspsychologie und mit ihr die Orientierung am Menschen sowie an anthropologischen und zeitgenössischen Frage- und Problemstellungen wurden deutlich wichtiger. Als Susanne Heine Mitte der 1990er die Religionspsychologie am Standort Wien rehabilitierte und als eine zentrale Bezugsperspektive der Praktischen Theologie erneut etablierte, trat sie – historisch betrachtet – das Erbe des (vom Praktischen Theologen Gustav Entz in die Emigration gezwungenen) Systematikers Karl Beth an, der in Wien bereits im Jahre 1922 ein eigenes Forschungsinstitut für Religionspsychologie installiert, im Jahr 1928 die Zeitschrift für Religionspsychologie wieder aufleben lassen und im Jahr 1931 den Ersten Internationalen Religionspsychologischen Kongress an der Universität Wien veranstaltet hatte.
Seither ist die Religionspsychologie fest im praktisch-theologischen Curriculum verankert.

2. Zwischen slawischer Tradition und internationaler Ausrichtung

Von 1849 bis 1919 ist der Lehrstuhl für Praktische Theologie stets von einem Angehörigen der slawischen Nation besetzt worden. Der Panslawist Karl Kuzmány, dessen vertontes Gedicht Sláva šľachetným vor 1945 gar als slowakische Hymne fungierte, legte gewissermaßen den Grundstein für eine langanhaltende slawische Tradition am Wiener Lehrstuhl. Kuzmány führte Gottesdienste ein, die von (damals nur männlichen) Studenten in slawischer Sprache gehalten wurden und sorgte durch ein Sondervotum dafür, dass der Slowake Johann Michael Szeberinyi gegen große Widerstände seine Nachfolge antreten konnte. Szeberinyi wurde seinerseits von einem tschechischen Lutheraner abgelöst, der sich später auch als Gründungsdekan der Prager Hus-Fakultät einen Namen machen sollte: Gustav Adolf Skalský.

Dass homiletische Übungen und auch Vorlesungen in den slawischen Landessprachen der multinationalen Habsburgermonarchie angeboten wurden, mag aus heutiger Sicht überraschen, gehörte damals jedoch – wenngleich niemals konfliktfrei – zur gelebten Normalität. Ferner ist damit auch die Bedeutung der Wiener Fakultät für Studierende außerhalb des deutschen Sprachraums angezeigt. Wien ermöglichte vielen Theologiestudierenden einen Brückenschlag zwischen verschiedenen kulturellen und theologischen Welten. Dass der Südostmitteleuropäischer Fakultätentag (SOMEF) bis heute an der Evangelisch-Theologischen Fakultät in Wien stattfindet (zuletzt im Sommer 2019) und dass seit den 1980er Jahren eine enge Kooperation mit theologischen Standorten in Osteuropa (z.B. der Abteilung für Protestantische Theologie der Lucian-Blaga-Universität Hermannstadt in Sibiu) besteht, kann ohne diesen historischen Zusammenhang nicht verständlich werden. Wenngleich der Dialog mit den deutschsprachigen Schwesternfakultäten heute genauso bedeutsam ist und nicht wenige ERASMUS-Studierende aus Deutschland Teile ihres Studiums in Wien absolvieren, so erinnert die Geschichte des Lehrstuhls für Praktische Theologie doch daran, Internationalität nicht allzu westlich zu denken oder auf den deutschen Sprach- und Kulturraum zu reduzieren, sondern die Partnerfakultäten in den postkommunistischen Ländern des europäischen Südostens stetig im Blick zu behalten. Um diesen Dialog und den fachlichen Austausch hat sich besonders Karl Schwarz, Professor für Kirchenrecht am hiesigen Institut, verdient gemacht. Er war nicht nur Gastprofessor in Bratislava, Budapest oder Prešov, sondern er beschäftigt sich bis heute intensiv mit den historischen Bezügen der Wiener Fakultät in den südosteuropäischen Raum und steht in engem Kontakt mit theologischen und rechtswissenschaftlichen Gesprächspartner*innen im Südosten unseres Kontinents.

3. Kirchliche Ausbildung und Gesellschaftsrelevanz

Die erste Professorengeneration nach dem Zweiten Weltkrieg stammte geschlossen aus der Pfarrerschaft. Auch der erste Praktische Theologe in Wien, Paul Laitner, war geradezu selbstverständlich zuvor lutherischer Pfarrer gewesen. Viele praktisch-theologische Lehrstuhlinhaber qualifizierten sich für ihre Position vornehmlich auch durch ihre kirchliche Erfahrung, sei es in pfarramtlichen oder in kirchenleitenden Tätigkeitsfeldern. Es verwundert angesichts dessen auch nicht, dass der Zugriff auf den praktisch-theologischen Gegenstand über weite Strecken der Institutsgeschichte hinweg primär pastoraltheologisch angelegt war. Sowohl Forschung als auch Lehre waren vielfach unmittelbar auf die Handlungsfelder des traditionellen Pfarramts fokussiert und auf die christlich-religiöse Praxis innerhalb institutionell-kirchlicher Glaubenskulturen begrenzt.

Dies war insofern konsequent, als die Wiener Protestantisch-Theologische Lehranstalt (seit 1821) wie auch die spätere Evangelisch-Theologische Fakultät (seit 1850), zuallerest die theologische Ausbildung des – zunächst nur männlichen – Pfarrernachwuchs in den Ländern der Habsburgermonarchie sicherzustellen hatte und zudem bis 1922 nicht Teil der Universität gewesen war. Wissenschaftshistorisch betrachtet, musste ein solcher auf die Pfarrperson, die insitutionelle Kirche und die kirchliche Berufsausbildung zentrierter Zugang angesichts der zunehmenden Etablierung der Praktischen Theologie als einer eigenständigen, wissenschaftlichen und akademisch verorteten Disziplin, die von der christlichen Religiosität der Menschen ausgehend eine umfassende Reflexion der christlich-religiösen Praxis zum Ziele hat, in eine Sackgasse führen.

Die veränderten Ansprüche und Erwartungen an den Pfarr- und Lehrberuf sowie unter anderem ein neues Nachdenken über die Funktion der Religion(en) für das individuelle und gesamtgesellschaftliche Leben haben zweifellos mit dazu beigetragen, dass das Forschungsinteresse der Praktischen Theologie heute weit über kirchliche und schulische Handlungsfelder hinausreicht. Im Laufe der Zeit hat sich die Praktische Theologie als eine den interdisziplinären Dialog pflegende Disziplin etabliert, die sich u. a. mit psychologischen, soziologischen, politischen, wirtschaftlichen und ästhetischen Entwicklungen befasst, von denen Kirche und Gesellschaft gleichermaßen betroffen sind. Der Einsatz für den ökumenischen Dialog, wie ihn Hans-Christoph Schmidt-Lauber nicht nur im Feld der Liturgik forcierte, das Bemühen um den christlich-islamischen Dialog als Beitrag zum sozialen Frieden, wofür sich Susanne Heine engagiert, sowie auch die von Wilfried Engemann gesetzten Impulse für eine anthropologisch stimmige, lebensdienliche Glaubenskultur, die dazu beiträgt, dass Menschen als Menschen zum Vorschein kommen, sind Beispiele für die am Wiener Lehrstuhl unternommenen Versuche einer zeitgenössischen Praktischen Theologie.

Bernhard Lauxmann und Wilfried Engemann